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Als ich ein Kind war, fuhren meine Familie und ich jeden Sommer für zwei Wochen in die Toskana. Dort gab es ein verschlafenes italienisches Städtchen namens San Vincenzo, direkt am Meer, wo wir in einem kleinen Strandhotel wohnten. Von dessen Terrasse aus konnte ich über das glitzernde Wasser bis zur Insel Korsika blicken, die wie ein grauer Zahn über dem Horizont aufragte.

Ich spazierte die Marmorstufen hinunter und erreichte den Strand. Der heiße Sand, den ganzen Tag von der Sonne aufgewärmt, verbrannte mir fast die Fußsohlen. Also rannte ich so schnell, wie ich konnte, zum Wasser. Weißer Schaum spülte über meine Füße – die Überreste einer Welle. Der Wind schmeckte salzig, und ich stellte mir vor, wie Meerjungfrauen unter den Wellen spielten, ganz in Gold und Purpur glitzernd.

Ich drehte mich um. Die toskanischen Strandhäuser und die dahinterliegenden Zypressen waren vom Licht der untergehenden Sonne ganz in Gold verwandelt. Ich liebte das Geräusch der brechenden Wellen. Ich war elf Jahre alt – und das Leben war schön.

Mit sechzehn hatte jeder in meinem Jahrgang ein Facebook-Konto – außer mir.

„Aber warum willst du denn kein Facebook? Es macht so viel Spaß!“, fragte Maria mich nun schon zum dritten Mal innerhalb von zwei Tagen.

Maria hatte dunkelbraunes Haar, eine glatte, rosige Haut und Augen wie Bambi. Sie hatte nie einen einzigen Pickel und gehörte zu den hübschesten Mädchen an unserer Schule. Sie liebte Facebook, weil sie dort Fotos von sich und ihren Freundinnen beim Ausgehen posten konnte, Likes von Jungs bekam, die sie mochte, und schmeichelhafte Kommentare von Mädchen, die so sein wollten wie sie. Online konnte sie sich als das Teenager-Mädchen ausdrücken und zeigen, wie sie es wollte. Und sie wollte, dass ich mitmachte. Sie dachte, ich könnte etwas verpassen. Maria wollte einfach nur, dass ich dazugehöre, dass ich Teil der Facebook-Welt werde.

Aber sie verstand nicht, worum sie mich bat. Es beschämte mich, dass ich es ihr nicht erklären konnte – schließlich waren wir seit vier Jahren beste Freunde. Auf Facebook hätte ich mich zu einer Identität bekennen müssen. Zu etwas, das ich nicht war, das rund um die Uhr präsent gewesen wäre – übergestülpt von einer Gesellschaft, in die ich nicht passte.

Es war Mittagspause in der Schule, und ich ging meine Geschichtsnotizen durch – ich wollte nicht über Facebook reden. Ich sah an ihr vorbei aus dem Fenster und versuchte, eine Antwort zu finden.

Es war ein kühler Novembertag. Der Himmel war dunkelgrau, und die fast schwarzen, skelettartigen Bäume bildeten einen geisterhaften Kontrast zum Himmel darüber – fast wie Schatten: nicht wirklich da, nicht hier. Die meisten Blätter waren schon zu Boden gefallen, braun und matschig. Ich mochte die Farben des Sommers lieber. Wie die Farben des Meeres halfen sie mir immer, klarer zu denken.

„Ich glaube einfach nicht, dass ich es brauche. Vielleicht mache ich mir irgendwann mal ein Konto, aber im Moment habe ich einfach nicht das Bedürfnis danach.“

Ich war überrascht von meiner Ehrlichkeit – zumindest einer oberflächlichen Ehrlichkeit – und davon, wie leicht es war, nicht mehr zu sagen. Es stimmte ja: Im Moment verspürte ich tatsächlich kein Bedürfnis danach.
Da war zwar noch mehr, aber an diesem Punkt war mir klar geworden, dass es ein Teil des Erwachsenwerdens ist, zu wissen, was man sagen kann – und was besser nicht.

Juliet Jacques sagte in einem Interview, nachdem sie Trans, A Memoir veröffentlicht hatte: What if we’re not trapped in the wrong body but trapped in the wrong society? Damit bezog sie sich auf trans Personen, doch man kann diese Aussage weiter fassen: Man könnte alle Mitglieder der LGBTQ+ Community einbeziehen, Frauen, People of Color – kurz gesagt: jede Minderheit, die seit Jahrhunderten unter einer heteronormativen, patriarchalen, konservativen Gesellschaft gelitten hat.

Sie brachte hier etwas auf den Punkt, das für mich eine große Klarheit ausdrückte und sich wahr anfühlte. Ihre Worte wirkten auf mich wie eine frische Meeresbrise, die all die Düfte eines toskanischen Sommers mit sich trug – das salzige Meer und der Geruch von Zitronen. Ich konnte die Wahrheit ihrer Worte schmecken und riechen.

All die Jahre über glaubte ich, ich müsse mich anpassen. Schwul sein – aber auf eine Weise, die für die Gesellschaft, in der ich lebte, akzeptabel war. Eine Gesellschaft, in der ich leben musste, weil man mir keine Alternative ließ.
Damals fühlte sich die Antwort, die ich Maria gegeben hatte, richtig an – wegen etwas, das ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht begreifen konnte.

Als Maria meine Antwort hörte und einen Moment darüber nachdachte, seufzte sie nur und nickte.

Im Closet zu sein fühlte sich oft gefährlich an – und Facebook konnte wie ein Katalysator wirken. Im echten Leben, unter Teenagern, war es mir immer unangenehm, viel Zeit mit meinen Freundinnen und deren Freundeskreisen zu verbringen.

Ich hatte eine kleine Gruppe von Freundinnen, denen ich vertraute und mit denen ich gerne Zeit verbrachte. Und dann gab es all die anderen Teenager an der Schule – Menschen, die ich für schrecklich und dumm hielt.

Vor allem die hormongesteuerten Jungs. Man konnte ihrer Präsenz nicht entkommen. Sie nannten Mädchen „Schlampen“ oder sagten verletzende, übergriffige Dinge zu wem auch immer sie wollten. Sie benahmen sich, als gehöre die Schule ihnen.

Die meisten Mädchen und Jungen probierten auch Alkohol und Zigaretten aus. Das war mir, ehrlich gesagt, ziemlich egal – im Gegensatz zu manchen meiner Freundinnen und deren Eltern, die Alkohol und Zigaretten für das Tor zu harten Drogen und Schlimmerem hielten. Die meisten Teenager, die ich kannte, wollten einfach nur experimentieren, dazugehören. Denn wer wollte das nicht?

Was mich jedoch wirklich beschäftigte, war, dass Alkohol und Zigaretten mich an Partys und Verabredungen erinnerten. Ein Junge kam mit einem Mädchen zusammen, oder ein Mädchen mit einem Jungen. Aber es gab keine andere Möglichkeit.

Es fühlte sich an, als würde ich verzweifelt nach etwas suchen – nach einem Verständnis. Etwas, das mir schon einmal begegnet war – aber ich konnte mich nicht erinnern, wo oder wie. Vielleicht war es in einem Traum gewesen oder an einem weit entfernten Ort.

Gleichzeitig hatte ich Angst, es zu finden. Ich hatte panische Angst davor, dass es gleich um die Ecke auf mich wartete – ein Teil von mir. Dass es mich angreifen, hässlich aussehen und sich an mich heften könnte, für alle sichtbar. Und dass ich mich für immer schämen müsste.

Als all das mit dem Daten unter meinen Freundinnen anfing, hatte ich bereits für mich entschieden, dass ich nicht daran teilnehmen würde.

Während der meisten freien Zeit in der Schule lernte ich für meine Lieblingsfächer – Geschichte und Biologie – oder ich ging in die Bibliothek und las. So konnte ich dem ganzen Tratsch und dem ständigen Gerede übers Daten entkommen, wenn es mir zu viel wurde.

Doch jetzt spielte sich das Ganze auf einer anderen Ebene ab. Jeder hatte ein Smartphone – ich auch. Textnachrichten und Facebook-Posts waren völlig normal. Nur bei mir nicht.

Immer wenn ich zu viel Zeit mit meinen engen Freundinnen und deren Freundeskreis verbrachte, hatte ich Angst, sie könnten etwas an mir bemerken, dass ich selbst noch nicht bereit war zu erkennen. Und diesem Ganzen ausgesetzt zu sein, würde alles nur noch komplizierter machen.

Jeremy Atherton Lin schrieb in seinem Buch Gay Bar: To be gay was a menace – or a sitting target. And to be gay and in the closet was even worse.

Oft hatte ich Angst, dass die Freunde meiner Freundinnen mehr an mir bemerkten. Etwas, das ihnen nicht gefiel. Worüber sie die Kontrolle übernehmen würden – und dann hätte ich nichts mehr im Griff.

Ich fühlte mich wie ein wehrloses Ziel.

Ich begriff, dass das Wort „schwul“ an meiner Schule und in meinem sozialen Umfeld kein Wort war, das einen Mann beschrieb, der sich in einen anderen Mann verliebt oder ihn begehrt – sondern ein Schimpfwort war.

Es wurde jeden Tag benutzt, um jemanden oder etwas herabzuwürdigen. Meine Freunde sagten Dinge wie: „Das sieht voll schwul aus“ oder „Hör auf damit, das ist so schwul.“

Keiner von ihnen war in der Lage zu erkennen, dass dieses Wort für einen ihrer Freunde eine viel tiefere Bedeutung haben könnte. Dass es vielleicht die Antwort war auf ein wachsendes Bedürfnis nach Verstehen – ein Verstehen, das langsam in mir heranwuchs.

Schließlich gab ich Maria nach und legte mir ein Facebook-Konto an. Ich lud ein Profilbild hoch, ließ aber alles andere weg, was man über sich eingeben oder sagen konnte. Ich war da – und doch nicht. Es war nicht die Wahrheit.

Ich weiß nicht genau, woran es lag, aber im Sommer am Meer in der Toskana konnten meine Gedanken immer viel weiterwandern als zu Hause. Möglichkeiten und Ideen tauchten auf, die ich sonst nie gesehen hätte.

Vielleicht lag es daran, dass ich mein gewohntes Umfeld hinter mir gelassen hatte – vor mir nur der Strand und das Meer. Ich erinnere mich, dass mir hier zum ersten Mal wirklich bewusst wurde, dass ich anders war als die meisten anderen.

Am Strand baute ich jeden Tag eine Sandburg. Der braun-beige Sand hatte genau die richtige Konsistenz – nicht nur für Burgen, sondern auch für kleine Sandhäuser. Ich schmückte sie mit weißen und rosafarbenen Muscheln oder mit hellgrauem Treibholz, das ich am Strand fand.

Stundenlang konnte ich im nassen Sand sitzen, ganz in der Nähe der brechenden grünen Wellen – und nicht nur eine Stadt aus Sand bauen, sondern mir auch vorstellen, wer dort leben würde.

Am Nachmittag, wenn das Licht der Sonne sich in ein honigfarbenes Gold verwandelte, vollendete ich mein Meisterwerk. Dann ließ ich meine Sandburgenstadt dort zurück, bis die Wellen sie bis zur Unerkennbarkeit umspülten und sie wieder Teil des Strandes wurde.

Aber weil ich sie immer wieder neu bauen konnte, kehrten die Bewohner meiner Sandburg und ihrer Stadt an jedem Tag aufs Neue zurück. In meiner Vorstellung lebten dort winzige Meermenschen mit blauen Flossen, regiert von einem tapferen Prinzen und einer schönen Prinzessin – ihre Eltern waren das Meer und der Mond, die über sie wachten.

Ich stellte mir gern vor, dass Seesterne in der Sandbibliothek neben dem Schloss wohnten und das uralte Wissen der Stadt bewahrten. Und jedes Mal baute ich eine Mauer vor der Stadt, die die Wellen für eine Weile zurückhalten sollte – so, wie ich später in der Schule eine Mauer um mich selbst errichtete, um mich vor der Flutwelle der Ausgrenzung zu schützen.

Treibholzmenschen bewachten die Stadtmauer – kleine weiße Treibholzstäbe, die ich in die Sandmauer steckte. Sie hielten Wache, bis die Flut kam und es an der Zeit war, sich fortspülen zu lassen und ins Meer heimzukehren.

Es war eine friedliche Belagerung.

Eines Tages, während ich gerade an der Sandburg und ihrer Stadt baute, kamen ein Surfer und seine Freundin am Strand entlang. Er trug das Surfbrett unter dem einen Arm und hielt mit der anderen ihre Hand.

Sie war sehr hübsch – eine junge Italienerin mit langen, lockigen braunen Haaren und einem roten Bikini. Er hatte kurze, dunkle Locken, kräftige Arme, eine breite Brust und Bauchmuskeln. So einen Körper, so einen Mann, hatte ich zuvor nur im Fernsehen gesehen.

Beide lächelten mich an, und sie sagte etwas auf Italienisch zu mir, das ich nicht verstand. Ich glaube, es war ein Kompliment für meine Fähigkeiten als Sandburgenbauer.

Ich nickte, lächelte, sah erst sie an, dann ihn. Sie winkten zum Abschied und gingen weiter am Strand entlang.

Ich vergaß sofort, wie sie ausgesehen hatte. An ihn allerdings erinnerte ich mich – seinen durchtrainierten Körper und seine sanften braunen Augen, die ich nicht mehr aus dem Kopf bekam. Ohne zu wissen, ohne auch nur darüber nachzudenken, was das alles bedeuten könnte.

Damals sah ich die beiden einfach als neue Figuren in meiner Sandburggeschichte – und mit was für einer Selbstverständlichkeit ich ihn bevorzugt hatte. Von da an stellte ich mir den Surfer als den Prinzen der Sandburg vor, und sie wurde zur Prinzessin. Gemeinsam hielten sie sich an den Händen und blickten hinaus auf das glitzernde, silberblaue Meer, über ihnen die weiß leuchtende Sonne.

An sie erinnerte ich mich nur noch als Prinzessin in einem roten Seidenkleid – ihr hübsches Gesicht war zu einem allgemeinen, universellen geworden. Sie war eine schöne Tochter des Ozeans und des Mondes. Und er war der Prinz.

Und wenn ich an ihn dachte, musste ich lächeln.

Als die meisten meiner Freunde anfingen, sich zu verabreden und auf Dates zu gehen, kämpften zwei Gefühle unaufhörlich in meinem Herzen und in meinem Kopf gegeneinander.

Das erste war Eifersucht. Ich war eifersüchtig auf Maria – nicht auf ihre Schönheit an sich, sondern auf die Folgen ihrer Schönheit. Die meisten Jungs an unserer Schule begehrten sie, und ich bemerkte, dass sie – je älter wir wurden – immer attraktiver auf mich wirkten.

Ich hielt es für völlig normal, Attraktivität bei Mädchen und Jungen im Teenageralter zu erkennen. Doch die Jungen riefen in mir etwas hervor, das die Mädchen nicht konnten: Verlangen.

Langsam dämmerte mir, was mit mir nicht stimmte. Ich glaubte, es sei falsch – denn „schwul“ war ein Schimpfwort, und alles drehte sich um Dates zwischen Jungs und Mädchen. Das andere Gefühl, das sich in mir entwickelte, war Mitleid.

Als ich beschlossen hatte, nicht am Dating-Leben meiner Freundinnen teilzunehmen, bemerkte ich, dass viele Mädchen sehr unglücklich über das waren, was sich vor ihren Augen abspielte. Manche fühlten sich noch nicht bereit für Verabredungen, wurden aber von vielen Jungs und manchen ihren Freundinnen dazu gedrängt. Andere erkannten, dass sie nicht so hübsch waren wie Maria – und damit auch nicht so begehrt – und waren eifersüchtig auf sie.

Wieder andere, die einen Jungen nach dem anderen dateten, wurden als Schlampen abgestempelt. Mädchen redeten hinter ihrem Rücken über sie – vielleicht, weil sie sich für sie schämten. Dafür, dass sie es wagte, ihre Sexualität und ihre Wünsche so offen zu zeigen.

Das Wort Schlampe war ein Etikett, das nicht ganz so schlimm war wie schwul – aber es kam nah dran.

Allerdings konnten die Mädchen an unserer Schule ihre Traurigkeit, Eifersucht und ihre Wünsche offen ausdrücken – weil sie sich in einer heterosexuellen Welt bewegten. Ich hatte Mitleid mit ihnen, doch mein Mitgefühl hatte Grenzen.

Zum Beispiel fragten mich Maria und meine anderen Freundinnen beim Mittagessen oft – während sie über die Jungs redeten, die sie mochten – welche Mädchen die Jungs denn im Sportunterricht interessant fanden.

An meiner Schule hatten Jungen und Mädchen getrennten Sportunterricht. Die Mädchen machten Gymnastik, die Jungen spielten Fußball.
Ich antwortete meistens, dass die anderen Jungs nur über Fußball sprachen – ließ die Mädchen beim Mittagessen zurück und zog mich in die Stille der Bibliothek zurück.

Die Mädchen konnten schon selbst herausfinden, auf wen die Jungs standen. Dafür brauchten sie mich nicht.

Etwa zur gleichen Zeit, als meine Freundinnen mit dem Daten begannen, hatten wir im Biologieunterricht ein Aufklärungsgespräch über Sexualität.

„Na gut …“, sagte unser Biologielehrer unbeholfen. „Die Mädchen gehen mit der Schulkrankenschwester in die Bibliothek, und die Jungs bleiben bei mir – ich werde mit ihnen sprechen.“

Die Krankenschwester lächelte unserem Lehrer aufmunternd zu, dann den Mädchen, die ihr folgten. Unser Lehrer erklärte uns in sehr wissenschaftlichem Ton, was ein Mann tun müsse, um mit einer Frau ein Kind zu zeugen. Dabei war er die ganze Zeit über rot im Gesicht.

Dann zeigte er uns – mithilfe einer Banane –, wie man ein Kondom überzieht, falls man kein Kind bekommen oder sich nicht mit HIV anstecken wollte.

Es war eine seltsame Art, eine Krankheit und eine Schwangerschaft in einem Atemzug zu nennen. Als wäre ein Virus, das tödlich enden kann, genauso schlimm wie schwanger zu werden. Aber alles, was er uns erzählte, wussten wir ohnehin schon. Wir hatten alle Zugang zum Internet.

Aber so liefen die Sexualkunde-Stunden in der Schule ab – und so wurden sie von den Lehrkräften unterrichtet: Ein Mann mit einer Frau, und keine andere Möglichkeit.

Mit der Zeit tauchten neue Fragen auf. Zum Beispiel: „Auf wen stehst du?“ oder „Findest du sie nicht süß? Ihr verbringt so viel Zeit miteinander.“

Jenn Ashworth schrieb in Notes Made While Falling:

English which can express the thoughts of Hamlet and the tragedy of Lear, have no words for the shiver and the headache. It has all grown one way… let a sufferer try to describe a pain in his head to the doctor and language at once runs dry. There is nothing ready made for him!

Auch wenn Jenn Ashworth über Trauma schrieb – in einer durch und durch heteronormativen Umgebung aufzuwachsen, fühlte sich manchmal ebenfalls wie ein Trauma an.

Meine Antworten auf die Fragen, die mir gestellt wurden, waren immer dieselben: „Ich weiß nicht.“ – „Nein, das stimmt nicht, wir sind einfach nur Freunde.“

Es waren alles ehrliche Lügen.

Es gab keine passenden Worte, um den wachsenden Schmerz und die Scham in mir zu beschreiben – weil sich die Gesellschaft nur in eine Richtung entwickelt hatte.

Es gab nichts, das schon bereitstand, um auszudrücken, wie ich fühlte und was ich fühlte. Also versuchte ich, zu entkommen.

In dem Jahr, in dem ich die Matura machte und mich an englischen Universitäten bewarb, kehrten meine Familie und ich im Sommer noch einmal in das Strandhotel nach San Vincenzo zurück.

Das Erste, was ich dort tun wollte, war, eine Sandburg zu bauen. Als ich damit anfing, nagte ein Gedanke an mir: dass es vielleicht seltsam war, wenn ein Neunzehnjähriger eine Sandburg baute.

Die Jahre hatten mich selbstbewusster – aber auch besonders selbstkritisch – gemacht. Ich schaute ständig über die Schulter, um sicherzugehen, dass niemand bemerkte, dass ich anders war. Und irgendwie hatte ich das Sandburgenbauen damit verbunden.

Ich sah mich um und stellte fest, dass es niemanden störte, was ich tat. Eine Frau saß im Schatten beim Hotel. Sie trug einen blauen Badeanzug und war in ein Buch vertieft, dessen Titel ich nicht erkennen konnte. Sie war eine der vier englischen Frauen, die im Hotel wohnten. Mein Vater und ich hatten sie heute Morgen kennengelernt.

Ich hatte erwähnt, dass ich englische Literatur an einer englischen Universität studieren wollte. Was ich nicht gesagt hatte, war, dass mir Geschichten wie Der Herr der Ringe wunderbare Möglichkeiten geboten hatten, der Realität zu entfliehen.

Wieder einmal wusste ich genau, was ich sagen konnte – und was ich besser verschwieg. Für die kommenden Jahre würde ich nichts lieber tun, als genau das: fliehen.
„That’s lovely! So lovely!“, hatten sie zu meinen Studienplänen gesagt.

Mein Vater musste sich ein Lachen verkneifen. Sie waren so englisch.
Sie hatten uns erzählt, dass sie ihre Ehemänner zu Hause in Gloucestershire gelassen hatten und auf einem Mädelsurlaub waren – um die schöne Kunst der Toskana zu sehen, und die schönen italienischen Männer gleich mit!

Meine Aufmerksamkeit wanderte zurück zu den Wellen. Ich sah drei italienische Kinder, die lachend im seichten, grünen Wasser planschten. Sie sprangen umher – auf eine Weise, wie es sich kein Erwachsener je trauen würde.

Die Kinder schienen etwa neun oder zehn Jahre alt zu sein. In kürzester Zeit würden sie ins Teenageralter kommen – und dann würde all diese Leichtigkeit, ihre Freude, ihre Freiheit in den Bewegungen ihrer Körper verschwinden.
Das war das Alter, in dem Kinder beginnen, sich ihres eigenen Körpers bewusst zu werden – in dem sie spüren, zu wem sie sich hingezogen fühlen.

Entweder verstanden sie die Welt, in der sie sich bewegten – oder sie taten es nicht. Und dann kam die Angst, dass etwas furchtbar falsch lief.
Ich beneidete sie, weil sie nichts im Kopf hatten außer den Ozean und ihre Vorstellungskraft – die Freiheit, ein Kind zu sein.

Sie kannten noch keine Scham. Sie lebten noch – sozusagen – im Paradies.

Kaye Mitchell sprach in Writing Shame über ähnliche Gedanken: -and as ‘a pure point of origin in relation to language, sexuality and the state’. Childhood remains ‘a repository of hope yet a site of instrumentalization for the future but with an equal and opposite nostalgia for the past.

 Ich hatte mir den Strand und das Meer zu einem paradiesischen Ort gemacht.

In meiner Kindheit erschuf ich Königreiche aus Sandburgen – meine Vorstellungskraft wurde zu meinem Ursprungspunkt, zu meiner Hoffnung auf die Zukunft und zu etwas, auf das ich heute mit Nostalgie zurückblicke.

Wenn ich nicht am Meer war, stellte ich mir Geschichten über Meerjungfrauen vor und schrieb sie auf. Ich erschuf ganze Welten, mit Königreichen unter dem Meer, bewohnt von magischen Wesen.

Es überrascht wohl nicht, dass mein Lieblingsmärchen – und auch mein liebster Disney-Film – Arielle, die Meerjungfrau war.

Erst vor Kurzem erfuhr ich durch eine Dokumentation über Hans Christian Andersen, dass die meisten Historiker heute davon ausgehen, dass er schwul war – und dass seine ursprüngliche Geschichte von der kleinen Meerjungfrau ein Spiegelbild seines eigenen Lebens war.

So wie Juliet Jacques es sagte – und so wie Andersen es wohl empfunden haben muss – war die kleine Meerjungfrau in der falschen Gesellschaft gefangen und sehnte sich nach einem völlig anderen Leben.

Eine weitere Fantasy-Geschichte, dieses Mal aus dem Fernsehen, in die ich mich absolut verliebte, war Charmed.

Es war die Geschichte von drei Schwestern in ihren Zwanzigern, die nach dem Tod ihrer Großmutter in ihr Elternhaus zurückkehrten. In einer stürmischen Nacht erbten sie nicht nur das alte Haus, sondern auch magische Kräfte – und ein Zauberbuch: das Buch der Schatten. Mit dessen Hilfe kämpften sie gegen Dämonen der Unterwelt.

Meine besten Freundinnen und ich waren von Charmed besessen. Wir stellten uns immer vor, welche Kräfte wir wohl hätten. Ich mochte die Kräfte der mittleren Schwester Piper am liebsten – sie konnte die Zeit anhalten.

Ich konnte mir viele Momente vorstellen, in denen ich mir gewünscht hätte, dass die Zeit stillsteht: weil sie so kostbar waren, dass ich mir wünschte, sie würden länger andauern – oder Momente in der Schule, die ich einfach anhalten und dann davonlaufen konnte.

Doch je älter meine Freundinnen wurden, desto weniger interessierten sie sich für Charmed. Stattdessen fanden sie immer mehr Gefallen an Sex and the City oder Grey’s Anatomy.

Charmed sprach mich noch lange an – wegen eines bestimmten Handlungspunkts in der Serie:

Die Schwestern mussten ihre magischen Fähigkeiten jederzeit geheim halten – vor allen anderen, ihren Freunden, Arbeitskollegen und meistens sogar ihren Partnern.

Sie bewegten sich in einer Welt ohne Magie, waren aber selbst magisch. Ihre wahre Identität durften sie unter keinen Umständen preisgeben. Und doch gelang es ihnen in jeder Folge – während sie nebenbei auch noch die Welt vor bösen Dämonen retteten.

Das machte mir Hoffnung. Ich hoffte, dass ich – wenn ich mich irgendwann outete – mein Schwulsein wie eine magische Fähigkeit betrachten könnte: etwas, das ich, sobald ich offen damit umging, der Welt zeigen durfte.

Interessanterweise habe ich vor Kurzem auch herausgefunden, dass besonders die LGBTQ+ Community weltweit die Serie Charmed feiert – und dass sich vor allem schwule, lesbische, nicht-binäre und trans Menschen in den zauberhaften Hexenschwestern wiederfinden.

Offensichtlich war ich mit meinen Gedanken nicht allein.

In meinem letzten Schuljahr, als mir längst bewusst war, dass ich schwul war, ich mich aber nicht traute, es jemandem zu sagen, fand an unserer Schule das sogenannte Gimpelfest statt.

Es war das meisterwartete Ereignis unter uns Jugendlichen. Besonders die Mädchen waren aufgeregt und hofften, von einem Jungen zum Ball eingeladen zu werden.

Das Gimpelfest war ein sehr traditioneller Ball – das österreichische Pendant zur amerikanischen Prom Night. Und mit „traditionell“ meinte man: konservativ und heteronormativ.

Die Eröffnung des Gimpelfests war ein klassischer Tanz: Jungen im Anzug tanzten Walzer mit Mädchen in weißen Kleidern.

Natürlich war Maria eines dieser Mädchen. Sie sah umwerfend aus – bereit für eine Hochzeit.

Ein Junge und ein Mädchen – und keine andere Möglichkeit.

Luke Turner schrieb in Out of the Woods: My school had over 900 pupils, yet in my seven years there I never knew of one out gay or bisexual boy, only the bullying that was directed at anyone vaguely suspected of being a ‘poof’.

Ich musste laut lachen, als ich das las. Ich hätte diesen Satz selbst schreiben können – er traf exakt auf meine Schule zu. Nur dass ich acht Jahre dort war und es etwa 1300 Schüler gab.

Veranstaltungen wie das Gimpelfest, bei denen alte Tradition gefeiert wurde, machten es nicht gerade leichter, die eigene Sexualität zu hinterfragen oder sich zu outen.

So wie ich es eine Zeit lang geschafft hatte, Facebook zu vermeiden, gelang es mir auch, dem Gimpelfest bis zu meinem letzten Schuljahr aus dem Weg zu gehen. Doch in diesem Jahr musste ich hin – denn traditionell wird das Gimpelfest von den Maturanten ausgerichtet.

In diesem Jahr und auch im Jahr davor fragten mich zwei Mädchen, ob ich mit ihnen den Ball eröffnen wolle. Ich lehnte beide Male ab und sagte, ich hasse Tanzen.

Ich war beeindruckt von den Mädchen, die mich fragten – eigentlich hätte es andersherum sein sollen. Ein Junge sollte ein Mädchen fragen – aber auf keinen Fall andersherum.

Wieder einmal spürte ich Eifersucht und Scham, weil sie ihre Angst überwinden konnten – und ich nicht.

Ich kam erst nach der Eröffnung des Balls und ging kurz nach Mitternacht wieder. Der Abend war nicht so schlimm wie befürchtet – aber einer, den ich am liebsten ausgelassen hätte.

Ich schämte mich, an einem Ereignis teilgenommen zu haben, mit dem ich mich überhaupt nicht identifizieren konnte.

Mein Coming-out war schlussendlich nichts Besonderes. Es passierte eigentlich nichts. Nichts veränderte sich wirklich.

Ursprünglich wollte ich eine Szene schreiben, in der ich mich bei jemandem oute. Aber keine davon war wirklich erwähnenswert.

Meine besten Freundinnen, meine Schwester und meine Mama hatten es ohnehin schon geahnt und freuten sich einfach für mich. Mein Papa nahm es gelassen – aber bei persönlichen Dingen war er immer schon so gewesen.

In Gay Bar schreibt Jeremy Atherton Lin über den Autor Mark Simpson: If coming out isn’t a coming home, then it would mean that homos were still lost souls who have to face the universe alone. And that would be a bit of a downer, really.

Ich hatte gedacht, mein Coming-out würde etwas bedeuten – wie eine Art Erleuchtung, ab der alles besser werden würde. Aber alles ging einfach weiter wie zuvor.

Die ganze Scham, die sich über die Jahre in mir angestaut hatte, verschwand nicht – sie verwandelte sich in Wut und in die Erkenntnis, dass ich mich überhaupt hatte outen müssen.

Ich musste all diesen Schmerz durchleben – nur damit die Leute mich am Ende akzeptieren und respektieren würden. Ich war geoutet – und immer noch in einem heteronormativen Universum verloren.

Am Ende des Sommers, kurz bevor ich nach England ging, um an der University of York zu studieren, gingen meine besten Freundinnen und ich auf eine Hausparty.

Ich hatte mich bei meiner Familie und meinen engsten Freundinnen geoutet – und inzwischen war es auch bei deren Freunden und deren Freunden angekommen: Ich war nicht mehr im Closet.

Bis jetzt war ich der Einzige gewesen, der diese sonst durch und durch heteronormative Welt gestört hatte.

Lee Edelman schrieb in No Future: So the queer must insist on disturbing, on queering, social organization as such – on disturbing, therefore, and on queering ourselves and our investment in such organization. For queerness can never define an identity; it can only ever disturb one.

Queerness – das wurde mir klar – war nichts, das eine Identität definierte. Es war etwas, das Identitäten störte.

Auf der Party kam ein Typ aus der Schule auf mich zu. Wir hatten nie zuvor miteinander gesprochen.

Aber da war er nun, ganz freundlich, legte einen Arm um meine Schulter. Sein Atem roch nach Alkohol, und er sagte: „Ich wollte dir nur sagen, dass ich dich akzeptiere – so wie du bist. Es ist okay, so zu sein.“

Ich nickte nur und nahm dann seinen Arm von meiner Schulter.
Ich ging zu Maria hinüber. Sie lächelte, und ich setzte mich zu ihr. Sie hatte es nicht mitbekommen, sonst hätte sie etwas gesagt. Seit meinem Coming-out war sie sehr beschützend mir gegenüber geworden. Ich schätzte sie dafür sehr.

Sie und meine anderen Freundinnen redeten über irgendetwas, aber ich hörte nicht zu. Ich hatte genug zugehört.

In dieser Stadt war meine Identität nun „der Schwule“. Der, der einen ansonsten heteronormativen Ort gestört hatte. Und alle konnten mich akzeptieren. Es gab ihnen das gute Gefühl, nicht homophob zu sein.

Jetzt fühlte es sich so an, als würde – wie Edelman schrieb – meine Queerness nicht nur die Stadt stören, sondern auch mich selbst.
Queerness war nicht meine Identität. Ich war ein Mensch mit mehr als nur einer Sexualität.

Aber es war jetzt das eine, das ich sein musste – damit die Heteros mich akzeptieren konnten. Damit sie sich selbst darin bestätigen konnten, wie wunderbar offen und tolerant ihre Gesellschaft doch war.

Laute Musik, die Beats von Lady Gaga, und überall Regenbogenflaggen. Zwei Freunde und ich waren bei der Pride-Parade in Wien. Ich hatte noch ein paar andere Freunde gefragt, aber sie hatten Ausreden gefunden.

Inzwischen war mir klar: Sie akzeptierten mich – aber sobald die Schwulen für einen Tag Wien „übernahmen“, blieben die Heteros lieber zu Hause. Einige sagten sogar, sie fühlten sich unwohl, wenn sie von so vielen Schwulen und Lesben umgeben seien.

Tausende Menschen hatten sich im Stadtzentrum versammelt. Am Straßenrand standen Zuschauer, die uns ansahen oder anfeuerten. Ich spürte eine Trennung – zwischen ihnen und mir, zwischen uns und ihnen.

Pride war etwas Wunderschönes und sehr wichtig. Aber sie bestätigte auch nur, was uns diese Gesellschaft zu tun erlaubte. Einen Tag lang durften wir feiern. Die Gesellschaft lächelte uns zu und zeigte Respekt. Und für den Rest des Jahres gehörte die Stadt wieder ihnen.

Es war ein endloser Kreislauf: stören, Aufsehen erregen, dann Respekt bekommen. Ich war müde. Ich war einfach nur ein Mensch.

Es ergab wenig Sinn, jemanden nur dafür zu respektieren, dass er auf eine andere Weise geboren worden war, als die Gesellschaft es vorgesehen hatte.
Manchmal wünschte ich mir, von all diesem Stören und Respektiert-Werden befreit zu sein. Am liebsten hätte ich die Zeit angehalten und wäre davongelaufen oder hätte mich in einen Meermann verwandelt, wäre in die Donau gesprungen und davon geschwommen.

Und während ich auf dem Pride-Weg durch Wien lief, erinnerte ich mich an einen Spaziergang am Strand in der Toskana. Ich erkannte, dass die Lösung, all das zu überwinden, vielleicht von Anfang an schon da gewesen war. Meine Meerjungfrauen waren nicht mehr am Strand – aber sie waren bei mir. In meinem Kopf.

Die Wellen hatten sich silberlila gefärbt, während die Sonne unterging, und die Welt erneut in honigfarbenes Gold tauchte. Ich konnte klarer denken, spürte die Freiheit – so wie damals als Kind.

Ich musste an all die Geschichten denken, die ich hier am Strand erfunden hatte: an die Meerjungfrauen, die Seestern-Bibliothekare, die Treibholzmenschen, an den Prinzen und die Prinzessin.

Daran, wie ich ganz selbstverständlich entschieden hatte, dass es einen Prinzen und eine Prinzessin geben musste – einen Jungen und ein Mädchen, und keine andere Möglichkeit.

Aber auch daran, wie ich damals ebenso selbstverständlich den jungen Surfer seiner Freundin vorgezogen hatte.

Es war schon immer da gewesen.

Was, wenn ich die Geschichte von Anfang an umschreiben könnte?
Was, wenn ich meine eigene Gesellschaft erschaffen könnte – mit meinen eigenen Regeln?

Ich stellte mir ein Sandburgenkönigreich vor, an dem grüne Wellen brachen.
In meiner Welt wurde es von einem Prinzen und einem Prinzen regiert, die einander liebten.

Und es war eine wunderschöne Welt.

One comment on “Sandburgen bauen

  1. Avatar von Cori Cori sagt:

    lieb diese story fabi ❤

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