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Thomas saß am Küchentisch und war in Gedanken vertieft. Vor ihm, ein Blatt Papier und ein Bleistift in seiner Hand. Ohne nachzudenken hatte er begonnen zu zeichnen. Das tat er meistens. Zeichnen konnte er gut. In allem anderen war er eher nicht so begabt. Vielleicht noch im Lesen. Er liebte es über Mythologie zu lesen. Seine Lieblingsgeschichte war jenes Kapitel aus der Odyssey mit den Sirenen. Die Schrecken der Tiefe, die jedem der ihnen zu nahekam, die schönsten Träume ins Ohr sangen. Es gab kein Entrinnen, man musste ihnen verfallen, jenen dunkelhaarigen Frauen des Meeres, die einen dann verschlingen würden. Er kannte auch die anderen Geschichten über Sirenen und Meerjungfrauen. Schließlich lebte er in einer kleinen Stadt vor Wien an den Ufern der Donau. Er kannte die Sage über die Nixe Isa, eine Vorbotin für großes Unglück. Sie galt aber auch als Schutzpatronin für Seefahrer. Dann gab es auch noch Undine, eine Flussnymphe, die erst eine Seele erhalten würde, wenn sich ein sterblicher Mann in sie verlieben könnte und sie heiraten würde. Und solange sie eine Flussnymphe war, würde sie untreue Ehemänner in die Tiefe ziehen. Außerdem gab es auch noch die berühmte Geschichte Andersen’s: Die kleine Meerjungfrau und die Meerhexe. Als seine Gedanken über diese Nixen schweiften, zeichnete er natürlich intuitiv eine Frau mit Fischschwanz, die auf einem Felsen ruhte. Ein ähnliches Bild hatte er einmal von der Nixe Isa in Oberösterreich gesehen.

‚Immer diese Fischweiber! Nixen bringen Unglück, das weiß doch jeder. Morgen ist dein Geburtstag. Du willst doch nicht Unglück haben?‘

Seine Mutter war in die Küche gekommen, um das Abendessen vorzubereiten. Thomas zuckte nur mit den Schultern und ging mit Bleistift und Papier in sein Zimmer. Er legte die Zeichnung auf den Schreibtisch und nahm sein Skizzenbuch in die Hand. Er hoffte, morgen an seinem Geburtstag, würde er ein neues Skizzenbuch bekommen. Sein altes war schon fast voll. Mit Bleistift und Skizzenbuch ging er nach draußen, den Auweg entlang, hinunter zur Donau. Die Sonne war am Untergehen und warf goldenes Licht auf die schnell fließende Donau. Kein Schiff war zu sehen. Nur Wellen, die das Licht der Sonne reflektierten und von gold zu rot wechselten. Thomas setzte sich in den Sand und öffnete sein Skizzenbuch. Sein Blick wanderte das Ufer entlang. Er suchte nach einem Motiv zum Zeichnen. Sein Atem stockte. Er hatte etwas in den Wellen gesehen. Es konnte nicht sein. Es war unmöglich. Er sah nochmals hin, um sicher zu gehen. Doch sie war noch immer da, ohne Zweifel. Eine junge Frau von überirdischer Schönheit sah ihm entgegen. Sie bewegte sich nicht. Thomas konnte sich vor Schreck nicht bewegen. Ihre Haare waren von einem bleichen blond. Ihre Haut glitzerte in der untergehenden Sonne golden und blutrot, die in eine schimmernde Flosse von grünen Schuppen bedeckt überging. Sie schwamm von der Mitte der Donau in seichteres Wasser, nahe ans Ufer, ihre Flosse zur Hälfte unter Wasser. Doch es war nicht die grüne Flosse die ihn so verzauberte, sondern ihre Augen, die ihn in seinen Bann zog. Tiefe sturmgraue Augen die ihn traurig ansahen. Sie wirkten als spiele sich darin ein eigenes Leben ab. Fast wie ein Zauber der Thomas in den Bann zog. In ihren Augen wütete ein Sturm. Doch es war kein Wind und Regen, sondern Flammen und Blut. Staub und Asche wirbelten auf, Totenschädel pflasterten die Straßen, die von Ruinen umringt waren. Und darüber wütete ein Flammensturm. Sie hätten sich eine Sekunde oder eine Stunde ansehen können. Thomas wusste es nicht.

‚Komm zu mir! Schwimme mit mir in der Donau davon! Ich kann dir all die wunderschönen ruhigen Orte der Natur zeigen. Der Zauber eines grünen und blauen Reiches. Ein Kuss und du wirst für immer unter Wasser atmen können. Ein süßer Kuss! Vielleicht wirst du sogar unsterblich wie ich. Aber dort, wo du bist, wird bald alles vorbei sein. Wende dich ab vom Land! Dort wird das Leben bald vergehen und der Tod regieren! Du bist noch so jung, aber der Tod hat dich schon an der Schulter gepackt! Du hast es in meinen Augen gesehen!‘ Sang sie.

Ihre Stimme erreichte ihn wie Wehklagen der Wellen. Keine verzaubernde Musik, sondern fast wie die Melodie eines Totenmarsches.

Thomas wollte schon fast ins Wasser gehen, sich dem kühlen Strom hingeben und die Donaunixe in den Tiefen treffen, als er sich an seine Geschichten erinnerte. Sie war eine Donaunixe und nicht zu trauen. Hier an Land war er sicher unter den Menschen. Thomas schüttelte heftig den Kopf und schrie ‚Nein!‘

Die Nixe jedoch war nicht wütend, sondern sah ihn nur traurig und verzweifelt an. Dann wandte sie ihren Blick ab. Thomas war stolz auf sich. Er hatte der Nixe widerstehen können. Wie Odysseus hatte er einer Sirene gelauscht. Aber er hatte ihren Bann mit eigener Willenskraft gebrochen. Die Flussfrau tauchte ab. Er kam wieder zu Sinnen. Das letzte, was er von ihr sah, war ihre grüne Flosse, deren Schuppen mit den letzten Strahlen der Sonne hell glitzerten. Dann verschwand auch die Sonne in der Donau über dem Horizont. Thomas konnte es nicht fassen. Er hatte eine echte Nixe gesehen. Eine Nixe aus der Donau. In dem Moment, als er wieder zu sich kam, in dem Moment, als die Nixe verschwunden war, merkte er, dass seine Hände tief durch den Sand gefahren waren, als würden sie nach etwas greifen. Er richtete sich auf, noch etwas benommen, griff er nach Bleistift und Skizzenbuch und marschierte den Weg zurück nach Hause. Fast motorisch, Schritt für Schritt, ging er wie ein Soldat und entfernte sich von der Donau. Plötzlich traf es ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Er war so erregt darüber eine Donaunixe gesehen zu haben, dass es ihm jetzt erst einfiel, was für ein schlechtes Omen das eigentlich war. In allen Geschichten, die er gelesen hatte, waren Donaunixen Vorboten großen Unglücks. Doch was sollte schon geschehen? Schließlich hatte er auch gleichzeitig der Nixe widerstehen können. Er entschied, dies war kein unglückliches Treffen, sondern eine Versuchung, die er standgehalten hatte. Morgen war schließlich sein Geburtstag. Der beste Tag des Jahres! Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als er an seinen Füßen etwas rascheln hörte. Thomas sah nach unten. Eine Zeitung von heute Morgen war ihm im Wind vor die Beine geflogen. Er hob sie auf. Sie war ganz verschmutzt und mit Dreck verschmiert. Man konnte das Datum und die Überschrift erkennen:

Der 14 März 1938: Große Vorbereitungen für den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich sind im vollen Gange!

Jetzt fiel es Thomas wieder ein! Morgen war die große Feier am Heldenplatz. Der gleiche Tag wie sein sechzehnter Geburtstag! Der 15 März konnte nicht früh genug kommen!

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